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  Freilegung einer verdrängten Realität
  Oft ist erklärt worden, die Duderstädter hätten zum Nationalsozialismus 
  in Opposition gestanden. Es ist häufig auf die Reichstagswahl am 5. 
  März 1933 hingewiesen worden. Bei dieser Wahl erhielt das Zentrum in 
  Duderstadt 41,5 Prozent der Stimmen, die NSDAP 33,9 Prozent. Damit 
  blieben die Nationalsozialisten in Duderstadt auch deutlich hinter dem 
  Gesamtergebnis ihrer Partei im Deutschen Reich zurück. Die NSDAP 
  hatte insgesamt 43,9 Prozent der Stimmen erhalten. In den 
  Landgemeinden um Duderstadt herum schnitt die NSDAP in der Regel 
  noch erheblich schwächer ab. Dieses politische Meinungsbild vom März 
  1933 kann aber nicht auf die gesamte NS-Zeit übertragen werden – 
  noch nicht einmal auf die nächsten Monate. Um das zu verdeutlichen, 
  müssen wir nur auf die beiden christlichen Kirchen in Duderstadt 
  schauen – als den hier besonders einflussreichen gesellschaftlichen 
  Institutionen.
  Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 hatten die Mitglieder der 
  Evangelischen Landeskirche Hannovers mit der Mehrheit ihrer Stimmen 
  für die NSDAP votiert. (Röhrbein 1996.) Im April 1933 unterschrieb der 
  hannoversche Landesbischof Marahrens eine Ergebenheitsadresse:
  „Eine mächtige nationale Bewegung hat unser deutsches Volk ergriffen 
  und emporgehoben. Eine umfassende Neugestaltung des Reiches in 
  der erwachten deutschen Nation schafft sich Raum. Zu dieser Wende 
  der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja. Gott hat sie uns 
  geschenkt. Ihm sei die Ehre.“ 
  (Abgedruckt in: Niemöller, Wilhelm 1956: S. 79.) 
  Von daher erstaunt nicht, in welche Nähe zum NS-Staat sich die 
  evangelischen Kirchengemeinde in Duderstadt begab. Dazu seien zwei 
  Beispiele genannt:
  Zum Erntedankfest 1933 veranstaltete die NSDAP auf dem Bückeberg 
  bei Hameln eine zentrale Feier mit Hitler als Redner. Dieses Ereignisses 
  wegen kündigte die evangelische Kirchengemeinde am 29.9.1933 an, 
  die Hauptfeier des Erntedanks müsse um eine Woche verschoben 
  werden, weil zu viele -Gemeindeangehörige und Mitglieder des 
  Kirchenchors der Einladung der NSDAP zum Bückeberg folgen wollten.  
  (Eichsfelder Morgenpost am 29.9.1933.) Aus dem Untereichsfeld fuhren 
  zwei Sonderzüge dorthin.
  Das zweite Beispiel: Am 30. Januar 1934 beging die evangelische 
  Kirchengemeinde den ersten Jahrestag der „Machtergreifung“ mit einer 
  kirchlichen Feier.  So steht es in einem Jahresrückblick von Pastor 
  Stünkel, den die Eichsfelder Morgenpost am 6.1.1935 veröffentlichte. 
  Mit einer solchen Feier bekannte sich die evangelische 
  Kirchengemeinde in einer wirklich besonderen Weise zum NS-Staat.
  Die katholischen Bischöfe in Deutschland hatten bis zur Reichstagswahl 
  im März 1933 die Unvereinbarkeit christlicher Grundsätze mit der 
  nationalsozialistischen Ideologie hervorgehoben. Doch nun vollzogen 
  sie eine weitgehende Kehrtwende, die sie in der Kundgebung der 
  Fuldaer Bischofskonferenz vom 28. März 1933 erklärten. Der für 
  Duderstadt zuständige Hildesheimer Bischof verbreitete eine 
  Kurzfassung. Sein Hirtenwort druckte die Südhannoversche 
  Volkszeitung am 30.3.1933 im Wortlaut ab.
  „Die Oberhirten der Diözesen Deutschlands haben aus triftigen Gründen 
  (…) in den letzten Jahren gegenüber der nationalsozialistischen 
  Bewegung eine ablehnende Haltung durch Verbote und Warnungen 
  eingenommen (…).
  Es ist nunmehr  a n z u e r k e n n e n , dass von dem höchsten 
  Vertreter der Reichsregierung, der zugleich autoritärer Führer jener 
  Bewegung ist, öffentlich und feierlich Erklärungen gegeben sind, durch 
  die der Unverletzlichkeit der katholischen Glaubenslehre und den 
  unveränderlichen Aufgaben und Rechten der Kirche Rechnung getragen 
  (…)  wird.  O h n e  d i e   i n  
  u n s e r e n  f r ü h e r e n  M a ß n a h m e n 
  l i e g e n d e  V e r u r t e i l u n g  b e s t i m m t e r   
  r e l i g i ö s – s i t t l i c h e r  I r r t ü m e r  
  a u f z u h e b e n, glaubt daher der Episkopat das Vertrauen hegen zu 
  können, dass die vorbezeichneten allgemeinen Verbote und Warnungen 
  nicht mehr als notwendig betrachtet werden brauchen.
  Für die katholischen Christen, denen die Stimme ihrer Kirche heilig ist, 
  bedarf es auch im gegenwärtigen Zeitpunkt keiner besonderen 
  Mahnung zur  
  T r e u e  gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und zur 
  gewissenhaften Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten unter 
  grundsätzlicher Ablehnung alles rechtswidrigen und umstürzlerischen 
  Verhaltens. …“
  Also kein Aufbegehren und Widerstand gegen den NS-Staat! Die statt 
  dessen geforderte Treue gegenüber der nunmehr 
  nationalsozialistischen Obrigkeit, und zwar unter Berufung auf die 
  heilige Stimme der Kirche, konnte im katholischen Duderstadt nicht 
  ohne Wirkung bleiben.
  Der Duderstädter Stadtkaplan Thienel folgte den Vorgaben seines 
  Bischofs. Anfang April 1933 leitete er eine Versammlung des 
  Volksvereins für das katholische Deutschland. Ein Redner aus 
  Heiligenstadt stellte die Frage: Wie stehen wir Katholiken zum heutigen 
  Staat? Und er beantwortete sie laut Südhannoverscher Volkszeitung so:
  „Wir Katholiken stellen uns hinter unseren großen Führer, unseren 
  Reichspräsidenten. Ebenso sind wir auch bereit, unseren (!) jetzigen 
  Reichskanzler alles nötige Vertrauen entgegenzubringen. (…) Wir 
  Katholiken geben daher dem Staate und seiner Führung, was dem (!) 
  Staate ist. Mitzuarbeiten an der Neuordnung des Volkes rufen wir jeden 
  auf. Mitschaffen wollen wir eine neue Kultur zum Wohle des deutschen 
  Volkes. Mitkämpfen wollen wir beim Aufbruch der Zeit.“ 
  (Südhannoversche Volkszeitung am 11.4.1933.)
  Im Juni 1933 betonte der Kaplan der gleichen Zeitung zufolge in einer 
  Festrede,
  „der katholische Geselle stehe aus seiner Grundanschauung heraus 
  zum Staat. Er brauche es daher nicht besonders zu betonen, dass für 
  ihn die Achtung der staatlichen Autorität stets eine 
  Selbstverständlichkeit war. Solange Adolf Kolping sein großes Werk 
  ersann, haben seine Söhne, wie er es gewollt, sich stets und froh in den 
  Staat hineingestellt. So war es, so ist es und so soll es auch bleiben.“ 
  (Südhannoversche Volkszeitung am 20. 6. 1933.) 
  Die gewiss mit Illusionen verbundene Hinwendung zum NS-Staats in 
  Duderstadt lässt sich auch in Zahlen ausdrücken. Am 12. November 
  1933 fand eine erneute Reichstagswahl statt. Dabei handelte es sich 
  keineswegs um eine demokratisch-freie Abstimmung, sondern um eine 
  Scheinwahl. Nur eine Partei kandidierte, die NSDAP. Der 
  Propagandaaufwand war gewaltig und reichte bis in die Wahllokale 
  hinein. Aber eines war doch gewährleistet: Die Wahl war geheim. Die 
  NSDAP erreichte unter diesen Umständen, also trotz der gegebenen 
  Möglichkeit zum Nein, in Duderstadt mehr als 90 Prozent der Stimmen. 
  Dieses hohe Maß an Befürwortung muss man im Zusammenhang 
  sehen mit dem, was als erste Erfolge der Hitler’schen Politik verstanden 
  wurde, sowie mit der Sogwirkung der propagandistischen 
  Beeinflussung. Hinzu kam in Duderstadt die beschriebene Intervention 
  der Kirchen. Ein Detail verdient besondererer Aufmerksamkeit. 92,2 
  Prozent der Stimmen erreichten die Nationalsozialisten reichsweit. In 
  Duderstadt waren es 92,3 Prozent. Hatte bei der Reichstagswahl im 
  März die NSDAP in Duderstadt noch deutlich hinter dem 
  Gesamtergebnis der Partei zurück gelegen, so übertraf sie dieses jetzt 
  sogar, wenn auch nur geringfügig um 0,1 Prozent. Die Zustimmung zur 
  NSDAP war in Duderstadt also nicht mehr geringer als anderswo. Ein 
  politischer Stimmungsumschwung bedeutenden Ausmaßes hatte binnen 
  weniger Monate stattgefunden.
  Diese Wahlanalyse findet ihre Absicherung in den Erkenntnissen der 
  historischen Forschung heute. Ich zitiere Norbert Frei: „Nur wenige 
  Monate nach der ‚Machtergreifung’ taten eine suggestive Propaganda, 
  erste beschäftigungspolitische Erfolge und außenpolitische 
  Machtdemonstrationen bereits ihre Wirkung. Sie sorgten – stärker als 
  der polizeistaatliche Terror – dafür, dass die Bereitschaft wuchs, sich 
  dem Zug der ‚neuen Zeit’ anzuschließen – oder doch das Gefühl, sich 
  dem nicht mehr entgegenstellen zu sollen. Das galt auch für jene, 
  gegen deren politische Überzeugungen und Interessen das Regime 
  explizit angetreten war.“   Und Frei fügte hinzu, es sei offensichtlich 
  heute immer noch schwer, „mit dem Eingeständnis zu leben, dass sich 
  seinerzeit fast die gesamte deutsche Nation mit Hitler und seinen Zielen 
  identifizierte, in hohem Maße sogar mit seiner Politik gegenüber den 
  Juden“ .
  Literatur:
  
  Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der 
  Deutschen, München 2009. 
  
  Niemöller, Wilhelm: Die Evangelische Kirche im Dritten Reich. 
  Handbuch des Kirchenkampfes, Bielefeld 1956, S. 79. 
  
  Röhrbein, Waldemar R.: Gleichschaltung und Widerstand in der 
  Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers 1933 – 1935. In: 
  Grosse, Heinrich/Otte, Hans/ Perels, Joachim (1996). 
 
  
 
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
  
 
  