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  Judenkopfes
  Die Jahrzehnte nach dem Ende des 
  Zweiten Weltkrieges sind längst 
  Gegenstand der historischen 
  Forschung geworden. Daher erscheint 
  es angebracht zu fragen: In welcher 
  Weise ging man in Duderstadt nach 
  1945 mit der Erinnerung an die NS-
  Zeit um und welche Auswirkungen auf 
  das Handeln ergaben sich daraus? 
  Ein Beispiel für die Zeit der fünfziger 
  Jahre des letzten Jahrhunderts ist die 
  Installation einer Nachbildung des 
  Anreischke in einem der 
  Rathaustürme.
  Der Anreischke, Wahrzeichen von 
  Duderstadt, wurde 1988 einer 
  gründlichen wissenschaftlichen 
  Untersuchung unterzogen. Ziel war 
  herauszufinden, was denn die ursprüngliche Bedeutung dieser 
  Holzfigur sei. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Die ursprüngliche 
  Bedeutung der Figur konnte nicht geklärt werden. Eindeutig wurde 
  allerdings die Annahme widerlegt, der Anreischke stelle eine 
  antijüdische Spottfigur dar. Das Ergebnis der Untersuchung 
  veröffentlichte Stadtarchivar Dr. Ebeling 1989 in der Zeitschrift „Die 
  Goldene Mark“ des gleichnamigen Heimatvereins im Untereichsfeld.
  In den Jahren 1958/1959 jedoch war der Kenntnisstand in Duderstadt 
  ein ganz anderer. Und das ist für unser Thema aufschlussreich.
  „Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Bild stellt die Karrikatur [!] 
  eines Judenkopfes dar, welche die Züge des jüdischen Typus in 
  stärkster Übertreibung wiedergiebt. Der Spitzhut, den die Figur trägt 
  (…), war die den Juden gesetzlich vorgeschriebene Kopfbedeckung. 
  Daß die Figur beim Schlagen der Uhr, den Kopf hin und her drehte, 
  entsprach der humorvollen Würdigung jüdischer Beweglichkeit. In der 
  ganzen Einrichtung erkennen wir die Neigung der Zeit, die Juden zu 
  bedrücken und zu verspotten(…).“ 
  (Jaeger 1910, S. 60f.)
  Diese Deutung aus dem Jahr 1910 stammt von Julius Jäger, dem 
  damaligen Direktor des Duderstädter Gymnasiums für Jungen und 
  anerkannten Heimatforscher. Jäger war es auch, der in alten 
  Rechnungsbüchern der Stadt auf den ‚Polackenmeister’ Andreas 
  aufmerksam geworden war, welcher die Arbeiten zum Bau des 
  Stadtwalls beaufsichtigt hatte. Von diesem Andreas leitete Jäger rein 
  spekulativ die Herkunft des Spitznamens Anreischken der Duderstädter 
  ab. Dieser Name sei dann auch auf den Judenkopf übertragen worden. 
  Über die bloße Namensgleichheit hinaus aber, so betonte Jäger, hätten 
  der Wallbaumeister und der Judenkopf nichts miteinander zu tun.
  Die Erkenntnisse Jägers überzeugten. Karl Wüstefeld übernahm sie in 
  sein Buch „Das tausendjährige Duderstadt“, das zur Tausendjahrfeier 
  1929 erschien. Ebenso beschrieb 1939 Stadtarchivar Kretzschmar den 
  Anreischken als Darstellung eines Juden (Stadtarchiv Duderstadt), wie 
  auch 1974 Boegehold in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Die Goldene 
  Mark“. 1988 nach dem Anreischken befragt, wies der damalige 
  Ortsheimatpfleger von Duderstadt uneingeschränkt auf die 
  Darstellungen von Jäger und Wüstefeld hin. – Jägers Thesen fanden 
  also weite Verbreitung in Duderstadt. Sie wurden, wie Stadtarchivar 
  Ebeling 1989 feststellte, „zum allgemein akzeptierten Wissen in der 
  Stadt“ . (Ebeling 1989, S. 19.) Der Anreischke galt also 1958/59 nach 
  damaligem Kenntnisstand unbestritten als die Karikatur eines 
  Judenkopfes, zumindest für alle in der Duderstädter Heimatkunde 
  Bewanderten. Das besagt bis hierher noch nichts darüber, welche 
  Bedeutung diesem Wissen beigemessen wurde, zumal in einer 
  städtischen Gesellschaft, die sich des Schicksals der Juden im NS-
  Staat wenig erinnerte, und ob nicht andere Projektionen in die Figur, z. 
  B. Wahrzeichen der Stadt zu sein, auch emotional viel wichtiger 
  erschienen und weitaus mehr im Vordergrund standen als das 
  Charakteristikum „Jude“.
  1958 plante die Stadt Duderstadt, zur Hebung der Kultur und des 
  Fremdenverkehrs eine Nachbildung in einem Rathausturm zu 
  installieren. Stadtdirektor Schäfer formulierte Zuschussanträge:
  „Seit Jahren besteht hier der Wunsch, ein elektrisches Glockenspiel mit 
  der historischen Figur des ‚Anreischken’ im westlichen Eckturm unseres 
  Rathauses anzubringen. (…) Wie die Stadtgeschichte ausweist, hat 
  sich die Bezeichnung ‚Anreischke’ aus dem Namen Andreas entwickelt; 
  ein Mann dieses Namens war beim Bau der Duderstädter Wallanlagen 
  von 1508 bis 1521 als Aufseher tätig (…).
  Um die mit dem Abbau des Steintores unterbrochene Tradition mit dem 
  ‚Anreischken’ wieder aufleben zu lassen, hat der Rat trotz finanzieller 
  Bedenken beschlossen, eine größere Nachbildung der ‚Anreischken’-
  Figur zusammen mit einem Glockenspiel, das die Stadthymne ‚Mein 
  Duderstadt am Brehmestrand … ‚ intonieren soll, im Rathaus zu 
  errichten und damit der Allgemeinheit einen kulturellen Beitrag zu liefern 
  ….“ 
  (Stadtarchiv Duderstadt)
  Schäfer berief sich also auf die Literatur zur Heimatgeschichte. Auch 
  seinen Formulierungen lagen die Thesen Jägers zugrunde. Aber der 
  Stadtdirektor veränderte sie: Die Jäger’sche Deutung der Figur als 
  Judenkopf ließ er in seiner Darstellung weg.
  1959 wurde das Vorhaben bekanntermaßen umgesetzt, gegen 
  Einwände des bereits erwähnten Ratsherrn Boegehold. Fortan 
  verbeugte sich die Nachbildung des Anreischke zu bestimmten Zeiten 
  vom Rathausturm in Richtung Marktstraße. Sie war mit einer neuen, 
  harmlosen Identität versehen – mit der einer historischen Figur, eines 
  Wahrzeichens der Stadt. Irgendwann wurde sie als Nachbildung des 
  Wallbaumeisters Andreas bezeichnet. Hinzu kam die Melodie des 
  Glockenspiels. Durch sie wurde die Figur mit dem Text des 
  Heimatliedes „Mein Duderstadt am Brehmestrand“ in Verbindung 
  gebracht, dessen Refrain lautet „Wir halten treu und fest zusammen“.
  Der Judenkopf und „Wir halten treu und fest zusammen“ – das klingt 
  wie Hohn, nachdem die jüdischen Einwohner Duderstadts nicht sehr 
  viele Jahre zuvor ausgegrenzt, deportiert und ermordet worden waren. 
  Es war aber offensichtlich nicht so gemeint, was sich schon daraus 
  ergibt, dass der Anreischke zur positiv verstandenen Symbolfigur der 
  Duderstädter werden konnte. Das hatte aber ein doppeltes Verdrängen 
  zur Voraussetzung. Zum einen wurde das vermeintliche Wissen 
  beiseitegeschoben, der Anreischke sei ein Judenkopf. Zum andern war 
  das Schicksal der europäischen einschließlich der Duderstädter Juden 
  aus dem Bewusstsein ferngehalten. Ohne Gleichgültigkeit gegenüber 
  der Vernichtung der Juden unter der NS-Herrschaft, ohne 
  Gedankenlosigkeit, ohne Verdrängen und Vergessen hätte die 
  Nachbildung des vermeintlichen Judenkopfes nicht im Rathausturm 
  installiert werden können.
  Der Anreischke konnte nach der 1988 für ihn günstig ausgegangenen 
  Untersuchung zu Recht in seinem Turm bleiben. Es bleibt aber auch 
  Teil der Duderstädter Nachkriegsgeschichte, wie der Duderstädter 
  Stadtrat 1958/59 völlig unsensibel mit dem vermeintlichen Judenkopf 
  umging und dass mit Ausnahme des Ratsherrn Boegehold damals 
  niemand Einspruch erhob. Dieser Vorgang kennzeichnet das Ausmaß 
  des Verdrängens damals in Duderstadt.
  Literatur:
  Ebeling, Hans-Heinrich: Der Duderstädter Anreischke. 
  In: Die Goldene Mark, 40. Jg., 1989, Heft 1-4, S. 19 – 41. 
  Götz Hütt: Geschichte der neuzeitlichen jüdischen Gemeinde in 
  Duderstadt, 184 S., 14 €, erschienen im August 2012, ISBN 
  978348218660.
  Jäger, Julius (1910): Wie sind die Duderstädter zu dem Spitznamen 
  Anreischken gekommen. 
  In: Heimatland 6, 1909/1910. 
 
  
  
 
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
   
 
 
  
 
  